Wenn ihr unserer Sammlung einen Besuch abstattet, dann werden wir uns bestimmt über den Weg laufen, deshalb stelle ich mich schon einmal vor: Ich bin Nathalie Weilbächer, studiere Klassische Archäologie im Master an der Freien Universität Berlin und bin häufig in der Abguss-Sammlung Antiker Plastik anzutreffen. Hauptsächlich bin ich für die Social Media-Aktivitäten der Sammlung zuständig und biete regelmäßig Führungen zu verschiedenen Themen an (wozu ich nebenbei herzlich einlade).
Eine meiner Lieblings-Skulpturen der antiken Zeit befindet sich als Abguss in unserer Berliner Sammlung: Höchst reizvoll versucht die junge Frau ihre Nacktheit zu verstecken. Ihr Gewand liegt neben ihr auf einem Gefäß und war wohl nicht mehr rechtzeitig greifbar. Mit ihrer linken Hand versucht sie ihre Scham zu verbergen, während sie die Rechte über der Brust hält. Es scheint als wurde sie von jemandem überrascht und konnte nur im letzten Moment den unbekleideten Körper bedecken, sodass dem Betrachter der Blick auf ihre rechte Brust frei bleibt. Es ist die griechische Göttin Aphrodite oder ihr römisches Pendant Venus.
Bei der sogenannten Venus Capitolina handelt es sich um eine römische Marmorkopie aus antoninischer Zeit (um 150 n. Chr.), welche sich auf ein griechisches Original aus der Zeit um 300 v. Chr. bezieht. Über den Bildhauer des frühhellenistischen Werkes ist nichts bekannt, aber er wird wohl den Entwurf der Knidischen Aphrodite des Praxiteles aufgegriffen und weiter modifiziert haben. Ausgehend von dieser Interpretation wurde lange Zeit versucht das griechische Original einem der Bildhauer aus der Schule des Praxiteles zuzuschreiben. Favorisiert wurde Kephisodotos, allerdings bleibt diese Zuweisung rein hypothetisch. Während sich die praxitelische Aphrodite ihres Beobachters nicht bewusst ist und ihre Nacktheit offen präsentiert, versucht die Venus der Kapitolinischen Museen unzureichend ihre Blöße zu verdecken. Dieser Umformung des Motivs verdankt der statuarische Typus die moderne Bezeichnung „Venus Pudica“, die schamhafte Venus. Die Römer waren dermaßen begeistert von der Neuschöpfung der Figur, dass der Typus der Venus Capitolina in der kaiserzeitlichen Produktion von Venus-Statuen die dominierende Rolle spielte. Abgesehen von dem überlebensgroßen Format der Skulptur, gab es in antiker Zeit zahlreiche verkleinerte und vereinfachte Wiederholungen der Figur.
Was mich besonders fasziniert an der sog. Venus Capitolina ist ihre Interaktion mit dem Betrachter. Der Rezipient tritt aus seiner Rolle des neutralen Beobachters heraus und wird selbst zum Teil des Spektakels. Denn er ist es, der die Göttin beim Baden beobachtet hat und vor dessen Blick sie ihren Körper versucht zu verstecken. Jene Wechselwirkung zwischen Werk und Rezipienten ist ein neuartiges Gestaltungsmittel, welches erst in hellenistischen Skulpturen auftritt. Die Zeitlichkeit der Figur wird zum gegenwärtigen Augenblick. So lädt die sogenannte Venus Capitolina den neuzeitlichen Besucher praktisch ein, dem Alltag zu entfliehen und einen kurzen Ausflug an eine antike Wasserquelle zu machen.
Zum Stück:
- sog. Venus Capitolina (Abguss Berlin Inv.-Nr.: 01/15; Stk.-Nr.: VII 2170a.)
- Original: Palazzo Nuovo – Musei Capitolini, Rom, Italien
- Material: Marmor
- Datierung: römische Kopie aus antoninischer Zeit, griechisches Original um 300 v. Chr.
Mehr Informationen zum Abguss und zum Original unter:
http://arachne.uni-koeln.de/item/reproduktion/3304918